Heinz Stücke: Ein halbes Jahrhundert unterwegs auf zwei Rädern
Ein Start ohne Ziel
Es ist November 1962, als Heinz Stücke sein Rad besteigt und losfährt. Kein großer Abschied, kein Plan B – nur ein Werkzeugmacher aus Hövelhof, ein Dreigangrad, ein Zelt und der unbändige Drang, die Welt zu sehen. Eigentlich will er zu den Olympischen Spielen nach Tokio. Doch schon bald wird klar: Er wird nicht nur ankommen – er wird weitermachen.
Ein Fahrrad als Lebensgefährte
Das Rad ist alt, schwer und beladen wie ein Packesel. Trotzdem trägt es ihn über Grenzen, durch Regen, Hitze und Schnee. Manchmal verschwindet es – gestohlen in Afrika, in Asien, in Südamerika. Aber fast immer findet es zurück zu ihm, als würde es selbst wissen, dass es zu Heinz gehört. Für ihn ist es mehr als Metall und Gummi – es ist sein Zuhause, sein Herzstück, sein Lebenspartner.
Nächte in Telefonzellen, Tage im Sattel
Stücke schläft, wo er gerade kann: in Polizeistationen, unter Brücken, auf dem Boden von Schulen, in Telefonzellen. Einmal sogar auf den Ruinen von Machu Picchu. Er erträgt Krankheiten wie Typhus, er überlebt einen Schuss ins Bein in Afrika, er stolpert durch Bienenschwärme in Mosambik. Aber er erlebt auch die andere Seite: Kinder in Japan, die ihm nach Autogrammen rufen, eine Bauernfamilie in Bolivien, die sein Rad mit Draht repariert. Überall ein kleines Stück Menschlichkeit.
Begegnung mit Zoya
Mitten in all den Jahren auf der Straße gibt es eine Frau: Zoya aus Minsk. Immer wieder kehrt er zu ihr zurück, 28 Mal fährt er über die Grenze nach Belarus. Für Heinz, der kein Zuhause kennt, ist sie für eine Zeit ein Anker. Doch irgendwann heiratet Zoya einen anderen. Stücke bleibt nichts anderes, als wieder in die Pedale zu treten. „Das Rad war mir treuer als jeder Mensch“, wird er später sagen.
Wie er sich über Wasser hielt
Reichtum hatte er nie, aber Mangel auch nicht. Stücke verkaufte eine kleine Broschüre über seine Reise, hielt Vorträge, bot Fotos an. In Japan bekam er einmal 20.000 Dollar geschenkt. Kaiser Haile Selassie steckte ihm in Äthiopien Geld zu. Er lebte einfach, mit wenig. Das Rad war billig im Unterhalt – und der Rest fand sich.
Ein Archiv der Welt
Über 50 Jahre lang schrieb Stücke Tagebuch und fotografierte. Über 100.000 Bilder hat er gesammelt: lachende Kinder, Straßenmärkte, Landschaften, Gesichter. Ohne es zu ahnen, hat er ein Archiv geschaffen, das nicht nur seine Reise dokumentiert, sondern ein halbes Jahrhundert Weltgeschichte – gesehen vom Fahrradsattel.
Die Rückkehr
2014, nach 51 Jahren, ist Schluss. Stücke fährt zurück nach Hövelhof. 196 Länder hat er gesehen, fast 650.000 Kilometer gesammelt. Sein Heimatort richtet ihm eine kleine Wohnung ein. Dort stapeln sich heute Kisten mit Tagebüchern, Negativen, Fotos – Erinnerungen an ein Leben, das auf Rädern stattfand.
Freiheit als Lebensform
Heinz Stücke hat nicht nur eine Reise gemacht. Er hat sich ein anderes Leben ausgesucht. Eines ohne Routine, ohne Wurzeln, ohne Sicherheit – aber mit einer Freiheit, die kaum jemand kennt. Sein Rad war sein Schlüssel zur Welt, sein Zuhause, sein ständiger Weg. Ein Beweis dafür, dass man die Erde nicht besitzen muss, um sie wirklich zu erfahren.
Quellen und weiterführende Links
- Wikipedia: Heinz Stücke
- Spiegel: 50 Jahre unterwegs auf dem Fahrrad
- Stern: 196 Länder mit dem Rad
- NW: Rückkehr nach 51 Jahren
- Radfahren.de: Interview (Zoya-Beziehung)